Sorgegeschichte II.
„Eine ungewöhnliche Freundschaft verband mich mit Ilo, 25 Jahre älter als ich – einer etwas extravaganten, literarisch und religiös gebildeten Kunstfreundin. Ich lernte sie als junges Mädchen kennen, als ich für meine Jungschargruppe öfter in einer Kunsthandlung am Stefansplatz kleine Geschenke kaufte – sie war dort eine hilfreiche Verkäuferin – sonst aber gab es keinen Kontakt.
Erst etwa 2 Jahrzehnte später sah ich sie wieder, als ich mit Mann und Kindern in die Nähe der Piaristenkirche übersiedelt war. Jeden Sonntag nämlich erschien sie stark verspätet zur Messe – tappte mit Stock geräuschvoll durch den Mittelgang zur 1. Bankreihe, da sie nur dort die Predigt verfolgen konnte. Da sie sich auch unserer Frauengruppe anschloss, lernte ich sie näher kennen: als sie mir Texte zuschob, die mich in ihrer Gefühlstiefe, ja oft „Glut“, ergriffen, aber nicht einer Allgemeinheit zugemutet werden konnten (wie sie es gewünscht hätte).
Ich selber musste zugeben, dass mich die Thematik, etwa das alte Rätsel der Theodizee, in ähnlicher, nur etwas nüchterner Weise, beschäftigte, und so erhielt ich jede Woche einen ihrer Texte, oft mit brieflichen Ergänzungen versehen. Daraus entwickelte sich ein Briefwechsel, der viele Jahre andauerte; obwohl wir einander so oft trafen, gingen doch wöchentlich Briefe hin und her. Es stellte sich übrigens heraus, dass sie auch mit einigen bekannten Theologen im Briefwechsel stand: einem Benediktiner, einem Universitätsprofessor und einem Jesuiten.
Aus gelegentlichen Berichten erfuhr ich nach und nach, dass Ilo schon als Kind in ihrer damaligen Wohnung lebte – mit Mutter und Grossmutter, die sie sehr verwöhnten und eine Tänzerin aus ihr machen wollten. Sie soll auch einige Auftritte gehabt haben, aber da keine Karriere in Aussicht stand und sie schon immer kunstbegeistert war, wandte sie sich dem Kunsthandel zu.
Im Lauf der Zeit wurde Ilo altersbedingt schwerfälliger und konnte kaum mehr ausgehen – so versorgte ich sie mit Lebensmitteln, was allerdings nicht so einfach war, da Ilo etwa Zucker nur aus einer bestimmten Raffinerie vertrug, und, da sie keinen Eiskasten besass, etwa Würstl immer frisch geholt werden mussten. (Ausserdem dauerte es eine lange Zeit von meinem Anläuten bis zu ihrem Anmarsch und Tür-öffnen.) Ich wechselte auch ihre Bettwäsche und trug sie zur Putzerei – alles nicht ganz einfach neben einem Haushalt mit 3 Kindern. Eines Nachts um 4 h rief sie mich an: sie sei gestürzt und ich möge kommen um ihr aufzuhelfen. Da sie aber grösser als ich war, gelang mir das nicht – im Gegenteil lagen wir dann beide am Boden! Ich rief die Polizei, und der Beamte half uns beiden – und war ab dann – da mein Mann mir solche Hilfen nicht mehr gestattete – ihr Helfer in Nöten. Ausserdem konnte ich die Hilfskraft meiner Mutter auch für Ilo engagieren.
Als sie endlich nicht mehr allein leben konnte, wurde sie auf die geriatrische Abteilung des damaligen Lainzer Krankenhauses gebracht – noch sehr altmodisch mit 6 Betten im Zimmer und keiner sehr liebevollen Betreuung. Ich konnte sie nun – schon wegen des weiten Weges – nur mehr alle 2 Wochen besuchen; da sie zunehmend verwirrter wurde, nahm sie bei jedem meiner Besuche an, ich würde sie abholen um sie heimzubringen, und nur mit der (psychologischen) Hilfe der Schwestern konnte sie beruhigt werden. Sie starb dann ganz plötzlich und anscheinend ruhig, während ich mit meiner Familie auf Sommerurlaub war. Ihr Begräbnis und die Seelenmesse gestaltete ich aber so würdig als es mir möglich war.