Frieden schließen mit Demenz! Frieden schließen mit dem Leben?

Wenn es um Demenz geht, verfallen sowohl Medien als auch andere öffentliche Meinungen immer noch in einen Tonfall, der ein Schreckensszenario in den Vorstellungen Vieler heraufbeschwört.
Was zur Folge hat, dass Ängste rund um unsere Endlichkeit geschürt und Hochbetagte, Menschen mit Vergesslichkeit* und Sterbende aus unserem Bewusstsein tunlichst ausgeblendet werden. Mit weitreichenden Konsequenzen für uns selbst.
 
Wir nehmen uns damit nicht nur mögliche bereichernde Begegnungen. – Eine Beziehung zu einem sehr alten Menschen oder Menschen mit Vergesslichkeit kann entschleunigen, Sichtweisen verändern und uns positive Leitbilder vermitteln, wie wir selbst alt werden wollen. Oder uns entdecken lassen, dass Menschen mit Vergesslichkeit auch poetisch, weise, bescheiden, charakterstark, mutig etc. werden können. –
Wir nützen unsere große Chance auf ein gutes Leben bis zuletzt, wenn wir heute, wo wir noch können, unsere eigene Zukunft mitgestalten.
Was braucht es dazu? Zuallererst die Bedürfnisse, Träume und Herausforderungen, die sich im Lauf eines Lebens eben ändern, in der Begegnung persönlich erfahren und Verständnis entwickeln.
Wenn wir dann unsere Vorstellungen einem Realitätscheck unterzogen haben, könnten sich Bilder breit machen, die beruhigen und neugierig machen, auf das, was das Leben mit sich bringt. Und dann können wir vorausschauend aufbauen, was wir als Individuum und als Gesellschaft an Rahmenbedingungen brauchen werden.
 
 
Petra Rösler vom Kardinal-König-Haus hat dankenswerter Weise mit bewegenden Worten zum Friedensschluss mit Demenz aufgerufen und viele Institutionen unterstützen dies:
 
„Menschen mit Demenz bleiben fühlende Wesen mit dem Wunsch nach einem guten Leben – eine Darstellung als würdelose leere Hüllen verschärft Ängste und Stigmatisierung.
Die Bewältigung der Herausforderungen rund um das Leben mit Demenz braucht Zusammenhalt statt Spaltung, Solidarität und Akzeptanz der Betroffenen auf breiter gesellschaftlicher Ebene.
 
Der wichtige Kampf um mehr Ressourcen für die Betreuung darf nicht über einseitige, pauschalierende Darstellungen von Gewalt, Elend und Überlastung erfolgen.
Im Krieg ist vieles erlaubt, auch sprachlich. Immerhin geht es um Mobilmachung gegen das Böse. Ist deswegen auch in der medialen Darstellung erlaubt, über das Leben mit Demenz zu schreiben und sprechen wie aus einem Kriegsgebiet?
 
In den letzten Jahren haben sich viele Akteur*innen und Akteure in Österreich dafür stark gemacht, dass diese Art, über Demenz zu sprechen und zu schreiben, in den Hintergrund tritt. Weil dadurch Angst verstärkt wird, weil so Lebensrealitäten holzschnittartig verzerrt und Betroffene zu chancenlosen Opfern gestempelt werden. Im Rahmen dieser Anstrengungen wurde u.a. ein Leitfaden für demenzsensible Sprache entwickelt.
 
Wenn es um ein neues Verständnis von Demenz geht, orientieren wir uns an den Berichten jener, die mit dieser Erkrankung leben.
Wir hören, wie sie den Alltag und ihre Einschränkung bewältigen, was sie sich wünschen und von uns brauchen für ein gutes Leben mit Demenz. Selten ist dabei die Rede von Kampf, Verwüstung und Ohnmacht. Oft ist dabei die Rede von Akzeptanz, Teilhabe und Assistenz.
 
Natürlich hören wir auch viele andere Stimmen und ignorieren Fakten nicht. Wir wissen, wie anstrengend und (über)fordernd der Alltag mit vergesslichen, desorientierten Angehörigen sein kann.
Wir wissen, wie schwierig die Navigation im Pflegesystem ist und an wie vielen Ressourcen es mangelt. Wir wissen um die Personalknappheit in der mobilen und stationären Betreuung. Und ja, gegen diese Mängel kämpfen wir. Aus vielen Richtungen, kreativ, konstruktiv, kritisch.
 
Es macht aber einen Unterschied, ob wir gegen Mängel im System kämpfen, gegen unlogische Abläufe und Lücken, für vielfältige Angebote und bedarfsorientierte Leistungen.
Oder ob wir gegen eine Erkrankung kämpfen, die sich nur in Personen manifestiert, die unser Kampf dann miterwischt.
 
Statt einer Vision vom totalen Krieg, bis die Demenz besiegt ist (woran viele von uns nur schwer glauben können), haben wir eine Vision von einem Friedensschluss.
Davon, dass sich die Gesellschaft mit dem Phänomen der Demenz versöhnt, sie als – wenn auch schwierige – Manifestation des hohen Alters, als eine Form der Gebrechlichkeit, als eine Beeinträchtigung neben vielen akzeptiert.
 
Dann könnten Menschen mit dieser Erkrankung besser unter uns leben, weil sie nicht Protagonist*innen eines gesellschaftsweiten Kampfes sind. Weil nicht mehr klarer Verstand und Leistungsfähigkeit als Ideal gegen Vergessen und Fragilität als Versagen stehen.
Dann müssen sie ihre Defizite nicht mehr verbergen oder durch Aggression wegleugnen. Dann werden auch die pflegenden Angehörigen nicht mehr isoliert (Wer will schon mit in einen Krieg verwickelt werden?) und die Tätigkeit in der Altenpflege muss nicht mehr als Entweder/Oder von Heroisierung und Mitleid behandelt werden.
 
Bei vielen anderen sozialen Themen ist eine sensible, unaufgeregte Berichterstattung ja bereits breit gelebte Praxis, von Armut über Behinderung bis zum Suizid.
 
Daher möchten wir alle Medienschaffenden, alle Meinungsbildner und letztlich alle Bürgerinnen und Bürger ermutigen, sich von der Metapher des Kriegs gegen Demenz zu verabschieden. Und stattdessen den Alltag der Menschen mit Vergesslichkeit in den Blick zu nehmen.
 
Dann zeigt sich: Sie haben Wünsche und Bedürfnisse, ihr Leben hat Höhen und Tiefen, die zu erkunden sich lohnt. Wir rufen auf, die Würde der Betroffenen nicht zu opfern für eine eingängige Schlagzeile oder ein flottes Sujet. Wir möchten ermutigen, mit den Menschen mit Vergesslichkeit zu sprechen und ihre Lebensrealität, ihre Wünsche und Anliegen kennenzulernen.
 
… Und wir wollen ermutigen, auch bei den Angehörigen nicht nur auf die Belastungen zu fokussieren, sie nicht bloß als Opfer bzw. Täter in Gewaltszenarien oder als übermenschliche Helden darzustellen, sondern das Geben und Nehmen auch in der Pflegebeziehung zu erkennen.“
 
(Alle Unterstützer*innen und der vollständige Text sind hier nachzulesen: https://alzheimer.ch/de/gesellschaft/weltweit/magazin-detail/913/frieden-schliessen-mit-demenz/)
 
*Demenz wird von Betroffenen als entwürdigend empfunden. Viele bevorzugen „Menschen mit Vergesslichkeit“.